Selamet Aydogdu

Leidenschaft braucht kein Sehvermögen

Langeweile? Das kennt der seit Geburt blinde Selamet Aydoğdu nicht. Der zweifache Familienvater und IT-Spezialist aus dem Kanton Aargau sprüht nur so vor positiver Energie. Und auch wenn das Gespräch mit ihm Corona-bedingt via Bildschirm stattfinden muss, springt die gute Laune sofort über. Das Porträt eines Menschen, wie es ihn gern öfter geben dürfte.

«In der Regel hat mein Tag eher zu wenige Stunden»

Auf die Sekunde genau wählt sich Selamet Aydoğdu in den virtuellen Sitzungsraum ein. Das Erste, was auf dem Bildschirm von ihm zu sehen ist, ist ein fröhliches Lachen in einem offenen, freundlichen Gesicht. Wie so viele von uns ist auch Selamet Aydoğdu seit bald einem Jahr im Homeoffice. Der Applikations-Entwickler hat sich im Dachstock seines Hauses ein kleines Büro eingerichtet. Hier kann er in Ruhe arbeiten. Mehr oder weniger zumindest, denn seine beiden Kinder geniessen es, dass ihr Papa viel mehr zu Hause ist als sonst. «Dass ich plötzlich immer erreichbar bin, ist für sie natürlich toll. Doch wenn ich arbeite, brauche ich meine Ruhe. Dafür können wir jeden Tag zusammen frühstücken und Mittag essen, was nicht der Fall ist, wenn ich auswärts in Aarau arbeite», erzählt Selamet Aydoğdu. Dank der gewonnenen Zeit, die durch den Wegfall des Arbeitsweges entsteht, bleibt dem Familienvater sogar regelmässig noch ein Stündchen während der Mittagspause, um mit seinen Kindern ein Spiel zu spielen. «Eile mit Weile», «Mühle» und «Vier gewinnt» haben es Familie Aydoğdu momentan besonders angetan. «Ich muss mich jeweils ganz schön konzentrieren, denn die Kinder versuchen gerne mal zu schummeln», lacht Selamet Aydoğdu. Und mit einem Schmunzeln fügt er hinzu: «Sie nutzen die Situation schamlos aus. Doch ich erwische sie meistens.» 

Mit den Ohren sehen 

Für seine Kinder ist es völlig normal, einen Vater zu haben, der blind ist. Sie kennen die Situation nicht anders. Was Blindsein aber genau bedeutet, dafür mussten die Kinder erst ein Verständnis entwickeln. So haben sie ihrem Papi früher zum Beispiel gerne Zeichnungen gezeigt und gefragt: «Wie findsch?». Dass Selamet Aydoğdu die Zeichnungen gar nicht «sehen» konnte, verstanden sie erst später. «Ich habe ihnen immer das Gefühl gegeben, dass ich sehen kann, was sie mir zeigen. Und dass ich es schön finde», erzählt er. «In solchen Situationen vergesse ich manchmal selbst, dass ich blind bin.» 

Viele Funktionen, die üblicherweise die Augen übernehmen, haben bei Selamet Aydoğdu die Ohren übernommen. So kann er zum Beispiel allein anhand der Geräusche erkennen, ob die Tochter in der Küche eine Gabel oder einen Löffel aus der Besteckschublade holt. «Ich rufe dann aus dem Wohnzimmer und kommentiere, was sie gerade tut. Das sorgt jeweils für grosses Staunen. Doch ich kann halt eben besser sehen als andere – um Ecken rum oder durch Wände hindurch», lacht er. 

Eine Frage der Technik – und der Zeit

Dass Selamet Aydoğdu kein Problem mit seinem Blindsein hat oder jemals hatte, glaubt man ihm auf Anhieb. Denn egal, worum es geht: Der 39-Jährige geht seinen Weg und lässt sich von seiner Einschränkung nicht behindern. Im Gegenteil. Egal, ob es die Soundanlage im Keller ist, mit der er Musik aufnimmt, komponiert und abmischt. Ob es seine beiden türkischen Musikinstrumente sind, die er mit Leidenschaft spielt. Oder sein neu gekauftes Laufband, das er mit seinem sprechenden Smartphone via Bluetooth verbinden und bedienen kann. «Es braucht zurzeit noch sehr viel Kreativität, wenn man sich als blinder Mensch in einer Gesellschaft von nicht blinden Personen zurechtfinden muss», stellt er fest. «Doch ich bin überzeugt, dass eine barrierefreie Welt möglich ist. Denn: Barrieren entstehen durch Barrieren.»

Was Selamet Aydoğdu damit meint, führt er gleich selber aus. Und man spürt, dass ihm eine solch barrierefreie Welt ein grosses Anliegen ist. «Die Ausrede, dass Menschen mit Behinderungen bestimmte Dinge nicht tun können, die gibt es nicht mehr. Denn technologisch ist heute alles möglich. Wo etwas nicht möglich ist, ist die Technik das Problem. Es ist keine Frage mehr der Möglichkeit, sondern der Machbarkeit.» Und wie so oft, führt er seinen Gedanken weiter, sei auch dies letztlich eine Frage des Geldes. Denn warum solle zum Beispiel ein Waschmaschinenhersteller seine Waschprogramme mit einer Sprachsteuerung ausrüsten, wenn es am Ende doch bloss dem Bedürfnis einer kleinen Minderheit entspreche? 

«Die Ausrede, dass Menschen mit Behinderung bestimmte Dinge nicht tun könnnen, die gibt es nicht mehr.»

Beim Überwinden vieler solcher Hürden unterstützt der SZBLIND Menschen mit Seh- oder Hörsehbehinderung. So stellt er seinen Klientinnen und Klienten bei Bedarf Hilfsmittel zur Verfügung, die exakt auf deren individuelle Bedürfnisse zugeschnitten sind. Auch in Selamet Aydoğdus Haushalt finden sich zahlreiche solche kleinen und grossen Alltagshilfen des SZBLIND – von der sprechenden Küchen- oder Personenwaage über verschiedene Brettspiele bis hin zum weissen Langstock. Selamet Aydoğdu ist enorm dankbar dafür. Besonders aber freut er sich, wenn er einmal in einem «normalen» Geschäft etwas findet, was er als Blinder genauso gut nutzen oder bedienen kann wie Sehende. Denn: «Auch wir Menschen mit Sehbehinderung sind nichts anderes als ganz normale Leute mit ganz normalen Wünschen und Bedürfnissen.»

50 Franken für ein Training mit dem weissen Stock um selbstständig zur Arbeit zu kommen.

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